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ANgeDACHT - Kreuz & Quer

Was gibt Halt?

© Passionsspiele Oberammergau 2022 / Sebastian Schulte

Als im Dezember vorletzten Jahres die erste Leseprobe im Kleinen Theater stattgefunden hat, konnte noch niemand ahnen, dass diese schöne Zeit nicht von Dauer sein würde und uns nur wenige Wochen blieben, bevor von einem auf den anderen Tag alles auf einmal stillstand. Die Proben, die uns allen Halt gegeben haben, fanden plötzlich nicht mehr statt. Sie hatten sich zuvor für mich und auch für viele andere zu etwas fast schon Alltäglichem entwickelt. Auch die anderen Dinge unseres Lebens, die uns normalerweise Halt geben, wie Schule, Sport im Verein oder das Zusammenkommen mit Freunden, waren nun nicht mehr möglich. Von 100 auf 0 in nur einem Augenblick. Hatten wir zuvor wochenlang mit hunderten von Menschen zusammen auf der Bühne im Passionstheater, im Ammergauer Haus oder im Kleinen Theater verbracht, gab es plötzlich „nur noch“ den engsten Kreis der Familie oder wir blieben sogar ganz alleine - Jeder wurde völlig ausgebremst.

Ich konnte viele Momente und Emotionen dieser Passion als Fotograf festhalten und hatte die Möglichkeit, die Geschichte aus meiner Perspektive zu erzählen. Als Darsteller ist diese nicht eine von außen, wie die von jenen Betrachtern, die so zahlreich zu Besuch in den Proben gekommen waren, sondern meine Perspektive zeigt die Passion von innen – meine Passion. Denn jedes einzelne Bild ist sehr subjektiv, ein Resultat aus meinen Ideen und aus den Dingen, die ich sehe. Die Fotografien erzählen dementsprechend eine individuelle Geschichte. Alles, was ich gesehen und dort erlebt hatte. Die Bilder halten nicht nur das Passionsspiel mit allen Vorbereitungen und Proben, sondern auch die Passion hinter dem Spiel, fest. Ich wollte die Leidenschaft zeigen, mit der jeder einzelne der Mitwirkenden dabei war. Von jenen, die noch nicht recht begreifen, was dort passiert, bis zu den Leuten, die wissen, dass das ihre letzte Passion sein könnte.

Nachdem die Pandemie auch nicht vor Oberammergau halt gemacht hat, werden die Passionsspiele nun nicht 2020 sondern eben 2022 stattfinden. Die Vorfreude wächst schon, denn jetzt hat bereits die „neue“ Passionszeit angefangen: Christian hat am Aschermittwoch den Haar- und Barterlass ausgerufen, der seit etwas mehr als 200 Jahren Tradition ist. Vielleicht ist es auch Tradition, dass die zweite Passion eines Jahrhunderts keine normale sein wird und verschoben werden muss. Schon 1920 mussten die Passionsspiele wegen des Ersten Weltkriegs und einer anderen Pandemie, der Spanischen Grippe, verschoben werden. Aber das ist dann doch eher weit hergeholt. Auf jeden Fall lassen sich viele Männer und Frauen wieder ihre Haare und manche auch ihren Bart wachsen. Bis zu den ersten Proben sind es noch viele Monate, aber vielleicht ist das auch etwas Gutes, denn dann haben wir mehr Zeit, um die Pandemie zu besiegen und alles so hinzubekommen, dass wir die Passion spielen können. Aber bis es soweit ist, wird es sich anfühlen, als sei die Zeit angehalten worden.